CHARTA VON TUNIS

Verabschiedet auf dem Weltsozialforum von Tunis am 29. März 2013

Als Bürgerinnen und Bürger, Vereinigungen und Bewegungen im Widerstand gegen die aufgezwungenen unnützen Großprojekte(*)

stellen wir fest:

  • Diese Projekte sind für die betroffenen Gebiete ein ökologisches, sozioökonomisches und menschliches Desaster: Zerstörung von Naturlandschaften, von Ackerland und bebauten Flächen, Umweltschäden und -zerstörung mit negativen Folgen für die Bewohner.
  • Die Bevölkerung ist bei diesen Projekten von den wichtigen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, und es besteht für sie kein offener Zugang zu den Medien.
  • Angesichts der tiefen sozialen Kluft, die diese Projekte hervorrufen, handeln Regierungen und Verwaltungen undurchsichtig und geringschätzig gegenüber den Bürgern mit ihren Argumenten und Vorschlägen.
  • Die offizielle Rechtfertigung für den Aufbau solcher neuen Infrastrukturen und Anlagen beruht systematisch auf falschen Hypothesen über Kosten und Gewinn und Schaffung neuer Arbeitsplätze.
  • Diese Großanlagen werden als vorrangig aufgezwungen, auf Kosten des lokalen Bedarfs.
  • Die Megaprojekte unterliegen einer Logik der übersteigerten territorialen Konkurrenz und führen zu einer Flucht nach vorn: „immer größer, immer schneller, immer teurer, immer stärker zentralisiert“.
  • Das liberale ökonomische System, das die Welt dominiert, ist in einer tiefen Krise. Die unnützen Großprojekte sind eines der Instrumente, überhöhte Profite für die zivilen und militärischen Industrie- und Finanzkonzerne zu garantieren, die sonst nicht mehr in der Lage sind, auf weltweit saturierten Märkten hohe Profitsteigerungen zu erzielen.
  • Die Errichtung dieser unnützen Projekte erfolgt stets zulasten der öffentlichen Haushalte, erzeugt enorme Schulden ohne Wirtschaftsaufschwung und führt jeweils zur Konzentration von Reichtum und zur Verarmung der Gesellschaft.
  • Diese Megaprojekte, mit denen das Raubtierkapital seine Herrschaft auf der Welt vergrößern kann, schädigen zugleich unumkehrbar die Umwelt und das Wohlergehen der Völker.
  • Dieselben Mechanismen, die seit dem Ende der direkten Kolonialisierung die ärmsten Länder in die Verschuldung treiben, werden jetzt auch in den Ländern des Westens angewandt.

Wir wenden uns gegen

  • die mit fairer lokaler Entwicklung unvereinbare Logik der Konzentration nach geografischer Lage und Funktionalität und die Mechanismen, die die Klein- und Mittel-Unternehmen und das lokale Wirtschaftssystem zerstören,
  • den Bau überdimensionierter Anlagen zur Produktion nicht erneuerbarer Energien und gigantischer Staudämme, deren Techniken eine starke Verschmutzung des Bodens, des Wassers, des Meeresgrundes und das Verschwinden ganzer Landschaften bewirken, und die das Überleben der zukünftigen Generationen gefährden,
  • die Finanzierungsmodelle für diese Großprojekte, die den multinationalen Großbetrieben unvorstellbare Profite verschaffen; denn sie werden mit Hilfe von skandalösen finanzjuristischen Konstrukten durch die Freisetzung von Geldern der öffentlichen Hand garantiert, zugunsten von Unternehmen, deren Lobby-Tätigkeit in die politischen Entscheidungen eingreift oder sogar Sondermaßnahmen zur Beseitigung aller juristischen Hindernisse erwirkt,
  • die Unterstützung für diese Projekte durch die verschiedenen lokalen, nationalen und supranationalen politischen Strukturen und die globalisierten Finanzinstitutionen, die sich damit gegen die Rechte, die Bedürfnisse und den Willen der Völker stellen,
  • die Militarisierung der Gebiete und die Kriminalisierung der Opposition.

Wir befürworten Lösungen in folgenden Bereichen:

  • Erhalt und Verbesserung der bestehenden Infrastrukturen, die im Hinblick auf Umwelt und Kosten meistens die bessere Alternative darstellen – der Bau neuer Infrastrukturen muss von öffentlichem Nutzen und nicht profitorientiert sein;
  • tiefgreifende Veränderung des Wirtschafts- und Sozialmodells, das heute in einer tiefen Krise steckt, indem wir insbesondere der Wirtschafts-Ansiedelung und -Wiederansiedelung vor Ort, dem Schutz der Agrarflächen, dem sparsamen Umgang mit Energie und dem Übergang zu dezentralen erneuerbaren Energien den Vorrang geben;
  • Übertragung der Entscheidungsprozesse an die direkt betroffene Bevölkerung mittels entsprechender Gesetzesvorlagen, als Grundlage echter Demokratie und lokaler Autonomie gegenüber einem aufgezwungenen Entwicklungsmodell;
  • neue, solidarische Beziehungen zwischen den Völkern im Süden und im Norden, die mit der Logik des Herrschaftsdenkens und des Imperialismus endgültig brechen.

Wir betonen unsere Solidarität im Widerstand gegen alle unnützen und aufgezwungenen Großprojekte und unseren gemeinsamen Willen, uns die Welt wieder zueigen zu machen.

(*) Diese Erklärung wurde von Vereinigungen und Bewegungen verfasst, die gegen den Bau großer Infrastrukturprojekte (für Personen- und Warentransport, Energieproduktion) oder von Großanlagen (für Tourismus, Städtebau, Militäranlagen) kämpfen und heute auf dem WSF von Tunis versammelt sind, um ihre Kräfte zu vereinen und ihrer Stimme mehr Gehör zu verschaffen, denn die Problematik ist überall die gleiche.