Liebe Stuttgart 21-Gegnerinnen und Gegner,
die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 ist in einer entscheidenden Phase.
Fraglich bleibt aber weiterhin, ob das Platzen des Kostendeckels, die technischen, juristischen und politischen Probleme dazu führen werden, dass einer der Projektbetreiber bald die Reißleine zieht. Können wir davon ausgehen, dass das Projekt innerhalb von Wochen oder Monaten beendet wird?
Die Blockadegruppe der Parkschützer warnt vor der Einschätzung, dass Stuttgart 21 kurz vor dem Aus steht, auch wenn wir das gerne glauben möchten.
Da die Einschätzung der Lage auch immer Auswirkungen auf die Strategie hat, wollen wir unsere Gegenargumente u.a. mit diesem Brief in die Bewegung tragen und zur Diskussion darüber anregen.
1. Argument: Vernunft und Verantwortung werden Stuttgart 21 stoppen.
Aber: Wenn es nach Vernunft und Verantwortung ginge, hätte dieses Projekt nie geplant werden dürfen. Es geht eben nicht um Vernunft und Verantwortung. Es geht bei Stuttgart 21 allein um Profit und um Macht. Und dafür nehmen die Projektbetreiber die Stadtzerstörung, den Rückbau des Bahnhofs, die Verschlechterung der Schieneninfrastruktur und ein heilloses Verkehrschaos in Kauf. „Sie wissen, was sie tun und sie tun es trotzdem“, hat der Journalist Arno Luik einmal bei einer Veranstaltung im Rathaus gesagt. Immer wieder wurde auf Montagsdemos deutlich darauf hingewiesen, dass es in Wirklichkeit gar nicht um einen Bahnhof geht, sondern um die Umverteilung von Milliarden Euro Steuergelder auf die Konten von Banken, Bauindustrie und Immobilienindustrie, um Rückbau von Schieneninfrastruktur zugunsten der Profitinteressen von Autokonzernen und Flugindustrie.
2. Argument: Die Kostenexplosion wird Stuttgart 21 stoppen
Aber: In Wahrheit gibt es keine Kostenexplosion, denn die Kosten waren immer da, sie wurden nur nicht zugegeben. Was wir erleben, ist das scheibchenweise Eingeständnis der Kostenlüge. Und wie Thomas Wüpper in der Stuttgarter Zeitung am 21.12.2012 erklärte: „Bei Großprojekten hat die Schönfärberei nicht nur Tradition, sondern auch System.“ Das ist bei der Elbphilharmonie so, das war beim Nürburgring so, das ist beim Großflughafen in Berlin und bei anderen Prestigeobjekten so. Und wir wissen auch, dass die jetzt zugegebenen 6,8 Milliarden Euro nicht das Ende sind. Wahrscheinlich würde Stuttgart 21 am Ende bis zu 15 Milliarden Euro kosten.
3. Argument: Wenn Stadt, Land und Bund nicht mehr bezahlen, ist das Projekt für die Bahn nicht mehr wirtschaftlich und der Aufsichtsrat muss das Aus beschließen.
Aber: Niemand sollte die Fähigkeit der Bahn und der hinter ihr stehenden Mächte unterschätzen, in einigen Wochen oder Monaten mit neuen Finanzierungsmodellen, mit neuen frisierten Zahlen und mit einer neuen angeblichen Machbarkeit an die Öffentlichkeit zu gehen. Es könnte entsprechend einer Bad Bank eine externe Projektgesellschaft gegründet werden. Es kann eine Task Force präsentiert werden, mit der angeblich „alles besser“ wird. Möglichkeiten gibt es viele.
Und vor allem: Die Bahn hat genug öffentliche Gelder einkassiert, die sie erst einmal verbauen bzw. sinnlos vergraben kann. Wenn dieses Geld verbaut ist und dann eine Bauruine in der Stadtmitte steht, erpresst die Bahn von Stadt und Land weitere Milliarden für den Weiterbau.
Mit jedem weiteren Bauabschnitt erhöht sich diese Erpressbarkeit. Falls eine Projektgesellschaft gegründet wird, kann diese auch bankrott gehen. Wenn erst einmal Tunnel gebohrt sind und der Bahnhofstrog ausgehoben ist, bleibt nichts anderes mehr übrig, als mit weiteren öffentlichen Geldern weiterzubauen. Da hilft es dann auch nichts, wenn in den Finanzierungsverträgen keine exakte Nachschusspflicht von Land und Stadt festgelegt ist. Würde die Bahn weitere Mehrkosten übernehmen, würde der Widerstand nachlassen, wenn wir weiter die Kostendebatte in den Mittelpunkt stellen. Aber: Es muss uns egal sein, aus welcher Tasche der Bürger für Stuttgart 21 bezahlt. Es darf auch nicht über Fahrpreiserhöhungen, Streckenstillegungen, Personalabbau, Serviceverschlechterung bezahlt werden. Auch wenn Stuttgart 21 nur die Hälfte oder gar nichts kosten würde, wäre der Widerstand gerechtfertigt, weil die Stadt zerstört wird, die Mineralquellen bedroht sind, die Schieneninfrastruktur zurückgebaut wird usw.
Wir müssen außerdem davon ausgehen, dass die Bahn bald noch höhere „Ausstiegskosten“ zusammenlügt, um in der Öffentlichkeit Stimmung fürs Weiterbauen zu machen.
Kurzum: Für die Bahn, für Banken, Industrie und Immobilienwirtschaft geht es um Milliarden Gelder, die sie mit Macht verteidigen werden.
Aus den genannten Gründen halten wir die derzeitige Fokussierung auf die Debatte der Kostenübernahme für höchst gefährlich und für ein Ablenkungsmanöver. Wir wissen nicht, ob die bisherigen, geschweige denn die künftigen Wirtschaftlichkeitsberechnungen der Bahn stimmen. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich für die Bahn langfristig unterm Strich immer noch rechnet wenn sie noch einmal ein paar Milliarden drauflegt. Wir müssen bedenken, wie viel Geld die Bahn bereits kassiert hat. Siehe hierzu das YouTube-Video zur Finanzierung der Kosten.
Bei der Neubaustrecke erleben wir, dass die Wirtschaftlichkeit keine Rolle mehr spielt. Die Neubaustrecke war nie wirtschaftlich. Sie wurde wirtschaftlich gerechnet. Durch die jetzt von der Bahn genannte Kostenerhöhung um 369 Euro auf 3,3 Milliarden ist sie nach den eigenen Maßstäben der Bahn unwirtschaftlich. Sie wird trotzdem gebaut. Verkehrsminister Ramsauer hat eine neue Wirtschaftlichkeitsprüfung kategorisch abgelehnt.
4. Argument: Die Bundesregierung will Stuttgart 21
Bundeskanzlerin Merkel sagte 2011 in einem Interview, dass Stuttgart 21 gebaut werden müsse, damit bewiesen würde, dass in Deutschland solche Projekte durchsetzbar seien. Und diese Position vertritt sie weiter, wenn sie neulich bei einer Veranstaltung der IHK in den Messhallen sagte: „Es kann nicht sein, dass wir nicht mehr in der Lage sind, große Verkehrsinfrastrukturprojekte in unserem Land überhaupt noch hinzubekommen.“ Also gilt es den Beweis anzutreten bei Stuttgart 21 und beim Großflughafen Berlin. Der Verbandschef der Deutschen Bauindustrie hat am 17.12.2012 gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärt, dass derzeit Großprojekte mit einem Auftragsvolumen von 48 Milliarden Euro blockiert seien. Auch deshalb steht die Bundesregierung weiter hinter Stuttgart 21. Der Vertrag für Grube wurde vorzeitig verlängert. Die Tunnelparteien CDU, SPD und FDP haben im Jahr der Bundestagswahl kein Interesse daran, sich mit einem Ausstieg zum Wahlhelfer der Grünen zu machen. Sie wollen die Grünen vielmehr bei Stuttgart 21 vorführen.
5. Argument: Die Justiz wird Stuttgart 21 stoppen
Aber: Wir sollten keine Hoffnung in Staatsanwälte und Gerichte setzen. Wir wissen aus der bisherigen Erfahrung, dass zwischen unserem Rechtsverständnis und dem von Staatsanwälten und Richtern Welten klaffen. Für viele offensichtliche Rechtsverstöße werden Klagen und Kläger gar nicht akzeptiert. Das fängt an beim Verfassungsverstoß „Mischfinanzierung.“ Wir gehen davon aus, dass Aufsichtsräte nur von Aktionären auf Schadensersatz verklagt werden können. Das wäre der Bund bzw. das Bundesfinanzministerium. Sie scheiden aber als Kläger aus. Noch nicht einmal die Abgeordneten des Bundestages könnten die Aufsichtsräte verklagen. Insofern teilen wir nicht die Auffassung, dass Aufsichtsratssitze der Bahn „Schleudersitze mit persönlicher Haftung“ (Richter a.D. Dieter Reicherter) sind. Außerdem nützt es nichts, wenn ein Manager, ein Aufsichtsrat oder Politiker verurteilt würde, wenn die Zerstörung durch Stuttgart 21 und die Verschleuderung von Steuergeldern an einem unumkehrbaren Punkt angelangt sind.
6. Argument: Mit den Grünen lässt sich Stuttgart 21 stoppen
Aber: Winfried Kretschmann als Ministerpräsident, Winfried Hermann als Verkehrsminister und Fritz Kuhn als Oberbürgermeister sind für den Widerstand ein zweischneidiges Schwert. Die Bewegung betrachtet deren Wahl als ihren Erfolg und fühlt sich ermutigt. Andererseits werden die Grünen in der Landesregierung und im Gemeinderat das Projekt nicht stoppen. Sie beschränken sich darauf, von der Bahn Transparenz einzufordern. Gleichzeitig verstecken sie sich immer noch hinter der Volksabstimmung und lassen die Bahn weiterbauen. Sie lassen auch zu, dass die Kriminalisierung der S-21-Gegner genauso weiter geht wie unter Mappus. Zwei Blockierer haben jetzt für ein Viertel Jahr Aufenthaltsverbot für den Kurt-Kiesinger- Platz bekommen.
Wir können nicht davon ausgehen, dass die grünen Politiker ihre politische Macht einsetzen, um das Projekt zu stoppen. Ihre systemstabilisierende und staatstragende Politik und ihr Interesse am Machterhalt verbietet ihnen einen offenen Kampf gegen Stuttgart 21 und einen Bruch mit der Koalition mit der Tunnelpartei SPD. Die Grünen Spitzenpolitiker stehen nicht auf der Seite des Widerstands, sie sind das raffiniertere Übel, um den Widerstand zu brechen. Wir erinnern daran, dass Jürgen Trittin im März 1997 noch an einer Castor-Blockade teilgenommen hat und vier Jahre später als Bundesumweltminister Polizei gegen Castor- Gegner eingesetzt und erklärt hat: „Gegen diese Transporte sollten Grüne in keiner Form – sitzend, stehend, singend, tanzend – demonstrieren.“ Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat den Stadträten von SÖS und Linke das Recht abgesprochen, im Gemeinderat zu sitzen und sich gleichzeitig am außerparlamentarischen Widerstand zu beteiligen.
Deshalb: Der Druck auf alle Projektbetreiber und auch auf die Politiker der Grünen muss weiter erhöht werden mit klaren Forderungen:
- Sofortiger Baustopp und Projektabbruch
- Entlassung von Bahnchef Grube, Technikvorstand Kefer und des gesamten Bahnvorstands. Sofortige Auflösung des Aufsichtsrats. Direkte demokratische Verwaltung und Kontrolle der Bahn durch die Beschäftigten der Bahn und die Bahnnutzer.
- Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs für den Kopfbahnhof
- Entlassung von Oberstaatsanwalt Häußler und Amnestie für alle verurteilten S-21-Gegnerinnen und Gegner. Schluss mit jeder weiteren Kriminalisierung.
Montagsdemos sollten dazu genutzt werden, Formen des Zivilen Ungehorsams und der Zivilcourage als wirkungsvolle Steigerung des Widerstands zu erklären und für Baustellenblockaden zu werben.
Nur vernetzter Widerstand wird Stuttgart 21 begraben
Wir rufen erneut dazu auf, unsere Bewegung gegen Stuttgart 21 mit anderen Protesten und Initiativen zu vernetzen. Das stärkt unseren Widerstand. Vom 25.-29. Juli 2013 findet das dritte europäische Forum gegen unnütze und aufgezwungene Großprojekte in Stuttgart statt. Auch die gemeinsame Veranstaltung der Mieterinitiative im Nordbahnhofsviertel mit der K21-Stadtteilgruppe „Nordlichter“ ist ein nachahmenswertes Beispiel für eine solche Vernetzung. Weitere Vernetzungen sollten unbedingt erfolgen. Dazu gehört primär die Vernetzung mit dem Kampf für die Rekommunalisierung der Energie- und Wasserversorgung in Stuttgart und eine echte Energiewende. Hier gibt es sogar einen sehr direkten Zusammenhang. Der geplante Tiefbahnhof und die Tunnelstrecken wären sowohl beim Bau als auch im Betrieb enorme Stromfresser. Die Bahn bezieht ihren Strom aus dem Atomkraftwerk in Neckarwestheim und verweigert jeglichen Ansatz, ihren Strom entweder selbst mit erneuerbaren Energien zu produzieren oder solchen Strom einzukaufen. Die Entscheidungsträger der Bahn sind gleichzeitig einflussreiche Lobbyisten der Atomenergie. Anlässlich des zweiten Jahrestages von Fukushima gibt es am 9. März in Neckarwestheim eine Demonstration gegen Atomkraftwerke. Auch dazu sollte der Widerstand gegen Stuttgart 21 mobilisieren.
Nur entschlossener Widerstand wird Stuttgart 21 begraben
Wir sind optimistisch, dass wir mit einem entschlossenen Widerstand dieses Projekt zu Fall bringen können. Gute Argumente und Demonstrationen alleine reichen nicht. Zusätzlich zu den Montagsdemos, Veranstaltungen und Protestaktionen müssen wir uns den Bauarbeiten massenhaft in den Weg stellen. Stuttgart 21 ist für die Herrschenden das Symbol für die Durchsetzbarkeit zerstörerischer und unnützer Großprojekte. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir es verhindern. „Baustopp selber machen“ ist das Motto der Blockadegruppe der Parkschützer. Es ist aktueller und wichtiger denn je.
Jeden Dienstag findet ab 6.30 Uhr eine Protest- und Widerstandsaktion vor der Einfahrt der S21-Baustelle am ehemaligen Nordflügel statt.
Am 14./15.2.2013 jährt sich die Räumung und Abholzung des mittleren Schlossgartens. Dies soll der Anlass für eine große Aktion im Park sein. Wir von der Blockadegruppe der Parkschützer sind dabei. Die Versorger planen eine Veranstaltung mit Redebeiträgen und Musik, siehe BAA.
Oben bleiben!